WEITERE INFORMATIONEN ZU CHRISTINE STRASZEWSKI

HIGGSTEDDY

Christine Straszewski und Silja Yvette

2016, Wiesbaden, Kurator Leander Rubrecht, RUBRECHTCONTEMPORARY

 

Einführungstext von Charlotte Lindenberg M.A., Kunsthistorikerin

 

Im Zusammenhang mit dem Titel möchte ich das dieser Ausstellung zugrundeliegende Konzept ansatzweise erläutern. Eine ausführliche Darstellung findet im Rahmen einer gesonderten Veranstaltung am 16. April statt. Der letzte Teil meines Texts widmet sich der  grundsätzlichsten der Grundsatzfragen: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“

 

CS und SY wählten ihre Arbeiten in Hinblick auf Korrespondenzen aus, die von Ihnen nachvollzogen werden können, aber nicht müssen. Die Paarbildungen haben ihre Gründe, können aber auch Ihre haben. So schärft die Aussicht auf das Erkennen von Zusammenhängen Ihre Aufmerksamkeit und bewirkt somit einen Effekt, auf den ich am Schluss zurückkomme. 

 

Zum Titel Mit massenhafter Verbreitung zunächst elektrischer, dann elektronischer, schließlich digitaler Geräte tat sich eine Schere auf zwischen Tun und Wissen. Immer häufiger bedienen wir omnipotente Apparate während unser Verständnis ihrer Funktion hinter unseren Fähigkeiten der Anwendung - genauer dem Zwang dazu - zurück bleibt. Die Allgewalt von uns EndverbraucherInnen auf unseren Benutzeroberflächen (!) beschränkt sich auf das Bedienen von Bedienflächen in hoffentlich richtiger Reihenfolge. Neben der Notwendigkeit, Flaschengeister zu kommandieren, hantieren wir auch mental mit Phänomenen, die unsere Kapazitäten in solch einer Weise übersteigen, dass deren Eingeständnis ein erhebliches Maß an Humor erfordert. Wir verweisen auf immer mehr Erkenntnisse uns immer mehr bekannter Koryphäen, die uns immer mehr überfordern. Das nach dem Physiker Peter Higgs (1929) benannte Elementarteilchen und die mit seiner Entdeckung einhergehende öffentliche Anteilnahme veranschaulicht – oder auch nicht – die Abgründe aus solider Halbbildung, die sich auftun, wann immer wir Unwissenden zwangsaufgeklärt werden mit Fakten, die unseren Erfahrungshorizont sprengen. 

 

Soviel zu Higgs. Auftritt Teddy. Was also tun mit dem Druck, zumindest erhobenen Hauptes zu kategorisieren, was uns überfordert? Tun wir doch einfach, was wir schon immer und daher zunehmend virtuos getan haben: Projizieren. 

 

Auf den ersten Blick: 'Gemälde und Fotos sehen aus wie.' Auf den zweiten: 'Ach wirklich? Wie was?' Auf Letzteres komme ich zurück Aber zuvor möchte ich die Eminenz zitieren, die stets herhalten muss, wenn man eine Autorität braucht, um sich auf selbige zu berufen. Also war es mal wieder Oscar, der – so oder so ähnlich - behauptet, man bekäme keine zweite Gelegenheit, einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Ach wirklich? Wie das? Ich hingegen, als Klein-Oskar sozusagen, wage zu behaupten, dass CSs und SYs Arbeiten genau das darstellen: Eine zweite und dritte etc. Gelegenheit, den ersten Eindruck auf seine Verbindlichkeit zu befragen: Wie bindend ist die reflexartige Assoziation entlang dem Schlachtruf 'sieht aus wie'? 

 

Sehen wir ein kindgerecht bedrucktes Kleid oder das geschlechtsspezifisch noch unbestimmte Kind im bereits sehr wohl bestimmten Kleid? Oder vielleicht einen ernstlich verletzten und entsprechend verschreckt blickenden Vorher-Zustand eines ängstlich antizipierten Nachher? 

 

Ein janusköpfiges Stoßmichziehdich mit zwei Seelen, ach, oder eine wandelnde Anklage – ein Klagetier sozusagen? Und worauf bezieht sich die Aufschrift auf der Kleidung einer Figur, die aber auch gar nichts hat, was man zum Strahlen braucht, darunter Mund und freudige Augen? Und selbst die vom Kopf ausgehenden Strahlen werden qua Titel zur Krone umetikettiert. Geht es um Schein und Sein, um die Diskrepanz zwischen behaupteter und gefühlter Person, Außen- und Innenperspektive? Um persönliche Ausstrahlung, die zur Führungsqualität funktionalisiert und somit ökonomisiert wird? 

 

Nichts veranlasst so wirksam dazu, auf dem Teppich zu bleiben wie die Familie, hab ich gehört. Tatsächlich scheinen die Chiffren kindlicher Wahrnehmung das Gegenmittel gegen den frei flotierend dilettantischen Blick, zu dem die hiesigen Fotos ermuntern. Spielzeug ist prädestiniert zum Spielplatz der bereits erwähnten Projektionen. Als Inbegriff des Stellvertreterobjekts erlaubt es Kindern durch Lenkung ihrer Vorstellung auf vertraute Figuren die Transformation neutraler Masse zum lebendigen Gegenüber. Und nicht nur Kindern. Auch Erwachsene empfinden Erleichterung wann immer wir im Unbekannten das Bekannte finden. Und die Übereinstimmung mit Anderen steigert die wohlige Vertrautheit zum zusätzlich beruhigenden Gemeinschaftsgefühl im kollektiven Bewusstsein: Mickey! 

 

Aber auch hier folgt dem ersten der zweite Blick, dem Wiedersehen das Sehen, mitunter begünstigt durch die Behinderung der Sicht. Denn je weniger wir erkennen, desto aufmerksamer schauen wir, z.B. auf oder in eine dreiteilige Fläche, bestreut mit dunklen Objekten. Der Blick wandert berührungsfrei über Strukturen, ohne sie zu erfassen, kann sie folglich weder be- noch ergreifen. Während unsere visuelle Neugier solch nicht von des Gedächtnis angekränkeltes Schauen genießt, wird das zur Gewährleistung des Überlebens erzogene Gehirn nervös. Man möcht ja doch gern wissen, ob das kippende oder steigende Flächen mit Formen drauf oder drin sind. Programmgemäß zückt der erkennungsdienstliche Apparat, Schwerpunkt Musteridentifikation, seine Sieht-aus-wie-Wunderwaffe. Und dank emsig optimierter Zeichenerkennungskompetenz wird er auch fündig und das latent beklemmende Herumschlendern im weißen Rauschen von einem erleichterten Heureka beendet: Scheibenwischer. Ach so. Bedauerlicherweise endet mit deren Identifikation das Erlebnis ihrer Funktion, kam doch das nicht-erkennende Umherschleichen einer Reinigung unseres kategorisierenden Sehens gleich. Genau damit ist es vorbei, sobald wir den Catwalk über Kühler, Windschutzscheibe und Dach ausmachen. 

 

Apropos Laufsteg: Die dezente Borte einer luxuriösen Textilie bietet schon mehr Hinweise und gibt immerhin so viel Aufschluss wie ein offensichtliches Designerstück ohne Beschriftung: Modisch gesehen tendenziell Oberliga, aber von wem genau? Die Verblüffung beim auf den zweiten Blick eintretenden Kippeffekt – Profil-Vase, alte-junge-Frau usw. - weicht der Einsicht, dass hier der zeitlose Menschheitstraum von der Verwandlung von Exkrementen zu Gold zum Tragen kommt: Vogelkacke an Stoffrand. Auch unwillkürlich drapierte Textilien auf einem Raster, dem Inbegriff mathematischer Gesetzmäßigkeit, lassen erst auf den inzwischen langsam überstrapazierten zweiten Blick erkennen, dass ihre eigentliche Form exakt genauso exakt bemessen ist wie das Muster des ihnen zugrundeliegenden Grundes: Ursprünglich rechtwinklig geschnittene Teppichstücke bis zur Unkenntlichkeit entordnet durch unbekannte Variablen, vulgo Menschen. 

Es folgt die angedrohte Grundsatzdiskussion. 

 

Warum all das ZeugIm folgenden Abschnitt geht es um ein Thema, das CS und SY anhaltend beschäftigt: Das Ding aus keiner anderen Welt – um einen alten Gruselfilm zu verballhornen. Nachdem sich der künstlerische Aktionsraum seit Ende der 90er Jahre in virtuelle Dimensionen verlagerte, richtet sich seit ca. zehn Jahren das Interesse verstärkt auf ein Phänomen, das sich menschheitsgeschichtlich ganz besonderer Beliebt- und daher ganz besonderer Abscheu erfreut: Das Ding an sich und für sich. Die vielzitierte Distanz der Informationsgesellschaft zum Grobstofflichen wird durch Betonung der Materialästhetik in Malerei und Skulptur attackiert und, wo möglich, annulliert. Die Malerin und die Bildhauerin hier aber gehen in umgekehrter Richtung: CS, die in vergangenen Jahren Malerei überwiegend installativ zeigte, malt nun demonstrativ, indem sie Figuren durch breite Konturen abstrahiert oder einen als Arbeitskittel denkbar ungeeigneten Mantel durch eben solche Konturen plättet. 

 

Und SY, die verschiedene Objektserien entwickelte, abstrahiert Gegenstände jetzt mit dem Mittel der Fotografie, wobei Gegenstand hier alles Dreidimensionale meint, darunter auch menschliche Körper, die in vegetabiler Gesellschaft ornamental wirken wie dekorative Strandgewächse. Die Fotos sind Teil einer als Künstlerbuch konzipierten Reihe. Doch ist ihre Funktion als Opposition zu immer abstrakteren Lebensbereichen der einzige Grund für Ausstellungen wie 'Das Wesen im Ding' (FKV 2010) oder 'The Meaning of Things' (Barcelona 2015)? Was sagen (uns) Dinge? Was haben wäg- und messbare Objekte, das ihre Simulationen nicht haben? Welche Erfahrungen machen wir bei Anblick von bzw. Handhabung und Umgang mit der Masse? Zwar tritt sie uns bei SY als Information statt Ergebnis chemischer Reaktion entgegen, doch beschreibt diese Information Gegenstände. 

 

Wenn eine Bildhauerin Dingen Lebendigkeit bescheinigt, meint sie das nicht metaphysisch, sondern äußerst physisch. Die Erfahrung der Eigendynamik der Materie, aka Tücke des Objekts, verbindet alle, die mit ihr hantieren. Schön wär's, wenn alles entsprechend Gebrauchsanweisungen und Bauanleitungen verliefe, doch ach: Was auch immer ich da will; sie will nicht so, wie ich wohl will. Dieser Eigensinn der äußerst untoten Masse macht Striche durch Rechnungen und sprengt Zeit- sowie andere Rahmen zuzüglich Etat, und widersetzt sich somit kreativer Allgewalt. Die Schöpferin wird zur Teilnehmerin von Verhandlungen zwecks Erzielung eines Kompromisses. Insofern setzt das Material der Intention Intention entgegen, womit wir wieder beim Gegenüber wären. Wie das Kind sich durch Interpretation der bedeutungsoffenen Form einen Gesprächspartner schafft, sucht die Künstlerin – sei sie Bildhauerin, Fotografin oder Malerin - den Dialog mit dem Material. An das Ding richtet sich demnach Jenny Holzers Stoßseufzer Protect me from what I want. 

 

Die feierliche Pose einer Kettensäge wirkt ähnlich gebieterisch wie die multifunktionale Heilige hinter ihrem Opferdarbringungstresen. Doch während das betont ätherische Mirakel vom Kranzplatz sämtliche Attribute aufweist, die eine nicht näher definierte Weihestätte so braucht – zweites Gesicht, kosmisch blaues Obergewand, Reittier und Niederknie-Facilities – erinnert das mindestens ebenso betont materielle Relikt des Industriezeitalters an einen archäologischen Fund. Genau diese Assoziation bestätigt seine Benennung als Milchzähne, Zeichen einer anfänglichen Entwicklungsstufe der Menschheit: Das Ding als etwas, das uns gute Dienste geleistet hat, in letzter Zeit aber zunehmend unliebsame Charakteristika an den Tag legt, weil ausgerechnet das Zweit-Einzige verbraucht, wovon wir zu wenig haben: Platz. 

Von daher sucht sich die Menschheit dieser pädagogischen Hilfsmittel ihrer Kindheit zu entledigen, sich auf ihr aktuelles Hoheitsgebiet zu konzentrieren, in dem Dinge hauptsächlich als Silikon ihr Dasein fristen, nebst allerlei, das gut schmeckt oder womit man andere Dinge ruinieren und ZeitgenossInnen totmachen kann. Anschließend können wir uns wieder in Ruhe der Schlacht um ihre Erst-Einzige Ressource zu widmen: Aufmerksamkeit. Ebenso wie Raum ist auch sie umkämpft, weil nicht nachwachsend. Nein, vermehren lässt sie sich nicht: In den handelsüblichen Tag passen maximal 24 Stunden á 60 Minuten Geistesgegenwart. Quantitativ ist also wenig zu machen, qualitativ hingegen gibt es durchaus Luft nach oben. 

 

Eben diese Schärfung der Wahrnehmung, das Tiefer-, Weiter- und Wiedersehen begünstigen die Fotos wie die Gemälde. Und was Sie im geschützten Raum einer Ausstellung praktiziert haben, können Sie mitnehmen in die verschärften Bedingungen der freien Wildbahn. Dort, wo die visuelle Kultur kommerzieller und politischer Interessensgruppen oder der Unterhaltungsindustrie Sie zu bloßem Wiedererkennen nötigt, können Sie solch vorauseilende Wahrnehmung ausbremsen durch den dezenten Einwand: Eine Giraffe ist das nicht. 


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