Der Mensch ist Emotion
von Janine Seitz
Emotionen gehören zum Menschsein und prägen unser Leben maßgeblich. Keiner kann sich ihnen entziehen, Wut macht uns blind und Lachen ist ansteckend. Und doch werden sie in der rationalen
Leistungsgesellschaft unterdrückt – sie stehen bis heute sinnbildlich für Schwäche und Kontrollverlust. Auch in der Kunst waren „Gefühlsduseleien“ lange Zeit verpönt. Emotionen darstellen? Ein No
Go!
Emotionen sind ein mentaler Zustand und schwer zu fassen – und noch schwerer im Bild einzufangen. Emotionen sind eine Reaktion auf Reize aus unserer Umwelt. Sie können sich körperlich ausdrücken
beispielsweise durch Lachen und Weinen, durch Zittern und Schwitzen, Herzklopfen oder rote Bäckchen. Emotionen sind mächtig und mehrdeutig. Sie brechen über uns herein, wir können uns ihnen nur
schwer entziehen und manchmal verstehen wir sie selbst nicht. Unsere erste Reaktion ist meist ein Gefühl, erst dann setzt der Verstand ein. Da wir meist leichter emotional als rational zu
erreichen sind, können Emotionen instrumentalisiert und als Trigger eingesetzt werden, um Menschen zu beeinflussen und zu manipulieren. Alternative Fakten setzen oft auf eine Ansprache über Angst
und Wut sowie nutzen Empörungsmechanismen und Hoffnungsversprechen.
Bereits in der Antike spielten Emotionen vor allem bei den philosophischen Schulen der Epikureer und der Stoa eine wichtige Rolle. Die Romantiker fühlten sich emotional verbunden mit der Welt und
der Natur, Immanuel Kant beschäftigte sich mit den Affekten und Sigmund Freud versuchte mit seinem Ansatz der Psychoanalyse vor allem die Gefühle aus der Tiefe des Unbewussten zu analysieren. In
den 1980er Jahren erlebte die Emotionspsychologie eine Renaissance – und auch Manfred Maria Rubrecht begann, sich mit dem Thema Mensch und Emotionen künstlerisch auseinanderzusetzen. Hierfür
nutzt er das Genre der Porträtmalerei – und auch gerne das Spiel mit dem Selbstporträt. Um die Jahrtausendwende entstand seine Reihe der Couch Potatoes, die durch die Verschmelzung der
Gesichtszüge emotionslos und selbstzufrieden wirken, wären da nicht die Luftschlangen, die um das Antlitz gewickelt sind. In den darauffolgenden Jahren schuf MMR zahlreiche Porträts von
Lachenden. Bereits damals wiesen die dargestellten Gesichter landschaftsartige Züge auf, in ihnen spiegeln sich die Auf und Abs des Lebens und der eingefangenen Situation. Gesichter als
Landschaften des Lebens.
Porträtgeschichte – frei von Emotionen
Zu Recht wird diskutiert, ob das Porträt die Mutter aller Genres sei. Seit Jahrtausenden werden Konterfeis gezeigt. Bereits im Alten Ägypten und in der Antike finden sich Darstellungen von
menschlichen Antlitzen, z.B. in Form von Mumien- oder Mosaikporträts. Büsten und übergroße Skulpturen schmücken Herrschaftsbauten und Tempel. Herrscherköpfe werden auf Münzen geprägt, Adelige und
Geistliche lassen sich porträtieren und schauen uns streng bis herablassend entgegen. Seine Blütezeit erlebte das Genre nach den dunklen Jahrhunderten des Mittelalters in der Renaissance. Was
wurde Mona Lisas zaghaftes Lächeln diskutiert – ist es überhaupt ein Lächeln oder nur ein künstlerisch perfekt in Szene gesetzter doppeldeutiger Schatten?
Gefühle oder überhaupt Sinnesregungen zu zeigen, stand lange Zeit nicht zur Diskussion. Es ging um stilisierte Abbildungen, Demonstrationen der Macht. Mit dem Aufkommen der Fotografie musste sich
die Porträtmalerei zwangsläufig weiterentwickeln. Sowohl Impressionismus als auch Expressionismus fokussierten – natürlich mit unterschiedlichen Mitteln – stärker auf die Erfassung der Emotionen
und der Psyche des Modells; mit Farben und Formen sollten zudem auch Emotionen bei den Betrachtenden erzeugt werden. Die Abstraktion verwandelte das Porträt dann vollständig, indem es oft nur
noch eine geringe Ähnlichkeit des dargestellten menschlichen Gesichts hat. Die Pop-Art-Porträts – man denke an die Siebdrucke von Andy Warhol – waren beinahe unendlich reproduzierbar und stehen
sinnbildlich für die Abnutzung der vermeintlichen Individualität, die die Konsumkultur vorgaukelte.
Das inszenierte Selbst
Dieser Hyperindividualismus zeigt sich heute auch auf die Spitze getrieben in der Selfie-Kultur. Was bis in die Neuzeit klassische Selbstporträts ausmachte, kann man heute auch auf Selfies
übertragen – beide dienen der Selbstdarstellung. Selbstbildnisse waren genauso in Szene gesetzt wie heutzutage die durch die verrücktesten Filter optimierten Fotos auf Instagram, Tiktok und Co.
Längst sind Selfies keine spontanen Schnappschüsse mehr, es gilt, sie fein säuberlich zu arrangieren, damit sie der Rolle entsprechen, die man im Theater des digitalen Lebens gerne spielen
möchte. Beide Formen stellen den Blick auf das eigene Ich ins Zentrum.
Doch während das Selbstporträt in der Kunst der Selbstbefragung, der Hinterfragung der eigenen Identität und der Verfremdung der eigenen Person dient – man denke nur an Frida Kahlo, Otto Dix oder
Cindy Sherman –, sich die Kunstschaffenden als Modell also von ihrem eigentlichen Ich lösen, dominiert das digitale Selbst den Menschen in seinem alltäglichen Leben. Alleiniges Ziel scheint es,
das stilisierte Abbild aus Social Media zu werden. Alles glatt, perfekt und hochglanz, kaum verwunderlich also, dass nur noch erwünschte Gefühle einen Platz finden. Unkontrollierte, aus einem
Menschen herausbrechende Emotionen sind nicht mehr gern gesehen – sie sind nicht instagrammable, sprich optisch für die Community, für Friends, Fans & Follower attraktiv. Verzerrte oder vom
Leben gezeichnete Gesichter, fragende oder ausdruckslose Blicke, lachende Grimassen entsprechen nicht dem Schönheitsideal einer sich selbst optimierenden Gesellschaft. Und genau da setzen die
neuen Werke von MMR an.
Raum für Selbstentfaltung
Die Konturen der Gesichter sind unscharf, die Übergänge zwischen Mensch und Raum fließend, je mehr man sich ihnen nähert, desto unergründlicher werden sie – es ist wie ein Blick in die
menschliche Seele. Die Porträts wirken gewollt unfertig, es finden sich farbige Highlights, der Hintergrund ist monochrom, die Leinwand lässt Raum zum Atmen für Weiterentwicklung und Entfaltung.
Gekonnt setzt MMR irritierende Balken ein – manchmal als Sockel schwarz am unteren Rand platziert als wolle er dem Gesicht Halt geben. Zweimal auch soweit das Gesicht bis zur Nase verdeckend, als
wäre die Person zum Schweigen verdammt. Ist es eine Anspielung auf den Augenbalken zur Anonymisierung der abgebildeten Person? Oder gar ein Zensurbalken?
Dieser Balken in der Augenpartie findet sich auch in zwei weiteren Werken der Lachenden, aber der Künstler setzt sie ein, indem er ihre ursprüngliche Funktion umkehrt: Während Stirn und Haar
sowie der geöffnete Mund, Kinn und Halspartie in Unschärfe gepackt und nur rudimentär ausgearbeitet sind, leuchtet die Augenpartie hervor. Alleine dieser Ausschnitt der zusammengekniffenen Augen
reicht aus, um die unendliche Freude im Gesicht des Gegenübers zu erkennen.
An dieser Stelle schließt sich wieder der Kreis zu den früheren Werken: Auch in ihnen geht es vorwiegend um das Lachen, das aus einem Menschen herausbricht – aus tiefster Seele, von aggressiv
über selbstironisch bis liebevoll. Sie erscheinen angesichts der aktuellen Entwicklungen in einem neuen Licht: In einer Welt voller Unsicherheiten und multiplen Krisen, in der wir versuchen diese
Mehrdeutigkeit mit Kontrolle und Eindeutigkeit einzuhegen, in der wir stets performen und uns optimieren müssen, fordern uns Rubrechts Gesichter heraus loszulassen, uns fallen zu lassen und das
Unperfekte zuzulassen. Und uns etwas genuin Menschlichem hinzugeben: unseren Emotionen.
Der Blick in die offenen Gesichter macht Hoffnung, gemeinsam lachen zu können und zugleich fordern sie uns heraus, uns unserer Emotionen stärker bewusst zu werden.